„Ich glaube daran, wir werden den 100. Jahrestag begehen“
Ausstellung vom 13.06. - 31.07.2017
Eröffnung: 13.06.2017, 18:00 Uhr, Universitätsbibliothek
Annäherungen an einen politisch wie ideologisch hochgradig vorbelasteten Gegenstand der visuellen Kultur, wie es das russische Plakat der Oktoberrevolution und der es umgebenden Zeit darstellt, gleichen dem nicht ungefährlichen Gang auf einem Minenfeld. In (kunst)historischen wie slavistischen Fachkreisen lange Zeit als billige politische Propaganda und Agitation diskriminiert und Medium der totalen Lüge diffamiert, geriet das sowjetische Plakat nach den 1970er Jahren mit der Wiederentdeckung seiner, in der UdSSR unterdrückten avantgardistischen Affinität zum Kult- und Sammlerobjekt, zum Objekt ernster wissenschaftlicher Forschung. 100 Jahre nach seinem Entstehen bietet es im heutigen Russland ideale Projektionsflächen für einen verdächtigen Retro-Style, für Persiflage im postmodernen Duktus mit Putin-Lenin-Montagen auf Bierkrügen und Touristenbuttons.
Dabei darf man es durchaus ernst nehmen, das Plakat der Oktoberrevolution. Entstanden an der Schnittstelle zwischen vorrevolutionärer Produktwerbung, russischem Bilderbogen (Lubok), frühen Filmplakaten und anderen visuellen Traditionen verfügte es anfangs über vieles nicht: ein klares Gegenstandskonzept, eine Strategie, eine Zielgruppendefinition, eine stabile Symbolik, letztlich über all das, was eine ‚OldProp‘ (Alex S. Edelstein) dringend benötigt. Seine eigentliche Entwicklungsdynamik bezog das Plakat der Revolution aus seiner diskursiven wie handlungsbezogenen Einbettung: es war (und blieb für viele Jahrzehnte) Teil und Instrument militärischer Aktion mit den bekannten Implikation wie z. B. einem rigiden Schwarz-Weiß-Denken, plausiblen Feindbildern, ungeschminkten Handlungsimperativen.
Die Geburt des Oktoberplakats aus dem operativen Geist des Militärischen evozierte jedoch nicht nur eine hohe situationsgebundene Flexibilität, sie ließ auch Platz für eine ideologische Aufnahmefähigkeit, dank derer die neuen politischen Postulate, vor allem Bausteine einer Befreiungs- und wirtschaftlich-kulturellen Entwicklungsutopie zu überzeugenden Werbeträgern heranwachsen konnten. Das Plakat der Oktoberrevolution, die Matrix des sowjetischen Plakats im 20. Jahrhundert, war lernfähig: in Richtung höchst unterschiedlicher „Inhalte“, kommunikativer basics und Formate, neuer Distributionswege, der Erschließung identifikationsbereiter Rezipientengruppen. Eine relativ schwache staatlich-ideologische Lenkung durch Staatsverlage oder das Zentralkomitee der Partei - verständlich im Chaos des Bürgerkriegs – eröffnete Gestaltungsräume für ästhetisch kühne Entwürfe im Stil des Suprematismus und Kubismus, unkonventionelles individuelles Engagement (Majakovskij und seine ROSTA-Fenster) und vor allem die Integration einer jungen Garde von Graphikern und Textern, die sich den Zielen der Revolution verschreiben sollten.
Das Statement des bekannten italienischen Werbegraphikers Oliviero Toscani „Werbung ist ein lächelndes Aas“ galt für das Plakat der Oktoberrevolution nicht; es kennt noch nicht den Zynismus der sowjetischen Werbebranche, der spätestens mit den 1930er Jahren um sich greifen sollte. Offen benennt es die Ziele, die Eigenen wie Fremden, soziale, politische und militärische Erfolge, für die es eintritt. Es liefert für die orientierungslose Welt des alten Russlands ein agenda setting und transportiert dabei gleichzeitig die Norm- und Wertvorstellungen, mit denen Russland im Jetzt und Morgen zu rechnen hat. Dabei verschweigt es nicht, in wessen Namen und Auftrag dies alles geschieht, wenngleich das Heilsversprechen einer kommunistischen Zukunft naturgemäß unscharf bleiben muss.
Das Plakat präsentiert letztlich den visuellen Baukasten und dessen piktoriale Elemente, mit denen die ‚neue‘ nachrevolutionäre Wirklichkeit zu lesen ist. Dickbäuchige Kapitalisten und zaristische Generäle sind zur Vernichtung freigegeben, die alte Welt wird aus den Angeln gehoben. Wer dieses Plakat zu lesen vermag, kann die Potentiale an Gewalt, Pathos, antibürgerlicher Verve, aber auch drastischer Selbstbehauptung, Sarkasmus und Ironie erahnen, die in dieser neuen Gesellschaft die Oberhand bekommen werden. Es verwundert daher nicht, dass diese Bausteine gleichermaßen das piktoriale Gedächtnis der UdSSR geformt haben und bis heute wirksam sind.
Zwischen machtbewussten Ewigkeitsansprüchen als Strategie zur Überwindung soziokultureller Kontingenz und Vergangenheitsfixierung in Form früher Jahrestagskulte oszillieren die Plakate zwischen 1917 - 1921, die einer permanenten Selbstvergewisserung bedürfen und dabei ihre kommunikative Bodenhaftung trotz allem im Chaos der Ereignisse, kriegerischen Auseinandersetzungen, Versorgungskatastrophen und politischen Unsicherheiten nicht verlieren. 100 Jahre nach ihrem Entstehen wirken diese Plakate - bei aller Zeitverhaftetheit - erschreckend aufrichtig, und doch des öfteren naiv, bezieht man die historische Fortsetzung im 20. Jahrhundert ein.
Die vom Landesspracheninstitut in der RUB und der Universitätsbibliothek organisierte Ausstellung zeigt Reproduktionen von 61 ausgewählten Werken und bietet damit ein Panorama sowohl bekannter, kanonischer Plakate als auch vollkommen unbekannter Arbeiten aus dem Zeitraum 1917 – 1921, die seit ihrer Erstveröffentlichung bis heute nicht mehr gezeigt wurden.
Klaus Waschik