Eröffnet wurden die Russlandtage, an denen die russische Kultur, Gesellschaft und Politik im Mittelpunkt standen, Freitag Abend mit einem Vortrag über Russlands Präsidenten Wladimir Putin, gehalten von Journalist und Putin-Biograf Hubert Seipel. Seipel kam Putin so nahe wie kein westlicher Journalist vor ihm. Er drehte einen Dokumentarfilm über Putin, begleitete ihn über Monate, hatte regelmäßig persönlichen Kontakt. Zum ersten Mal traf Seipel den Präsidenten im Januar 2010, als er an einem Film über die europäische Gasversorgung arbeitete. „Ich wollte mich mit Putin treffen, erhielt aber erst in allerletzter Minute eine Zusage“, erinnert sich der Journalist. Aus Moskau erreichte ihn plötzlich ein Anruf: „Können Sie morgen hier sein?“ Dort eingetroffen wollte jemand wissen: „Haben Sie etwas dagegen, wenn das russische Fernsehen am Gespräch teilnimmt?“ Seipel fragte zurück: „Kann ich denn etwas dagegen machen?“ – „Nein“, hieß es. Damit war das geklärt. „Kein Tag vergeht, ohne dass man etwas über Putin liest, auch wenn es viel Kaffeesatzleserei ist“, beginnt Seipel über sein Buch zu sprechen, das zu erklären versucht, wie Wladimir Putin vom KGB-Offizier in der DDR zum mächtigsten Mann und Gestalter des neuen Russlands, das sich immer weiter von den Vorstellungen des Westens entfernt, wurde. „Man muss seine Interessen kennen, sonst kann man nicht argumentieren. Ob man diese teilt, ist eine andere Sache“. In der Diskussion mit dem Publikum kam die Frage auf, wie Seipel zu Putin als Mensch steht. „Der Mann ist mir menschlich nicht unsympathisch. Er ist sehr direkt und humorvoll. Ich habe ihn als Strategen und Taktiker kennengelernt“, ist die vorsichtige Antwort.
Eigens zum Russlandtag angereist war eine Künstlerin aus Jasnaja Poljana, um einen Workshop zu traditionellen russischen Puppen durchzuführen. Die Puppen - aus Kraut und Stroh gewickelt - bedeuten nicht nur Spielzeug. Sie tauchen in den altertümlichen Riten oft als Maskottchen auf. „Früher war der Alltag in den Dörfern von Bräuchen und Ritualen geprägt. Es gab keinen Rettungsdienst und keine Polizei, man musste sich aus eigener Kraft helfen und die Puppen um Unterstützung bitten“ erklärt die Übersetzerin für alldiejenigen, die des Russischen nicht mächtig sind. „Puppen für die Kinder wurden aus Holz, Stoffresten und Birkenrinde gefertigt, Ritualpuppen verbrannt, in Stücke gerissen oder in der Erde vergraben. Schutzpuppen mussten in Ruhe und ohne Nähwerkzeuge wie Nadel und Schere gefertigt werden“, erklärt sie die Unterschiede, bevor die Besucher sich selbst unter Anleitung an einer Puppe versuchen konnten.
Auf dem Programm standen außerdem Mini-Sprachkurse, Spezialitäten aus der russischen Küche sowie ein Russland-Quiz. „Mein Papa kommt aus Russland und da ich mich für das Land interessierte, lese ich viel darüber und lerne die Sprache“, so der 11-jährige Erik, Gewinner der ersten Runde. In gemütlicher Atmosphäre konnte an anderer Stelle ein Auszug aus einem alten russischen Märchenbuch vorgelesen werden. Für musikalische Untermalung sorgte ein kurzweiliges und beeindruckendes Konzert vonRoman Yusipey am Akkordeon.
Dr. Olga Caspers rückte in ihrem Vortrag „Zwischen Gewalt und Glamour – Russische Filme der Gegenwart“ die russische Filmszene in der Regierungszeit Putins in den Fokus. Dabei ging es sowohl um Autoren- als auch um Massenproduktionsfilme, um die wichtigsten Entwicklungstendenzen in der russischen Kinoindustrie sowie um die bekanntesten Filmfestivals und bedeutendsten und einflussreichsten Filmzeitschriften. Einige Projekte wurden von ihr aufgrund der gezeigten Brutalität als „nichts für Schwache Nerven“ betitelt.
„Ich habe Jura studiert, um die Spielregeln der Welt kennen zu lernen, danach ein Zeitungsvolontariat absolviert, um zu verstehen, wie sie gemeinhin beschrieben wird – und als Dossier-Redakteurin der „Zeit“ habe ich sie schließlich selbst mit Notizblock und Aufnahmegerät erkundet.“ Mit diesem Zitat von Merle Hilbk stellt der Institutsleiter des LSI-Russicums Dr. Leo Weschmann diese vor und kündigt gleichzeitig ihre Lesung aus dem unveröffentlichten Buch „Das schönste Dorf am schönsten Fluss der Erde“ an. Die Autorin lies die gespannten Zuhörer zunächst an ihrer ganz persönlichen Suche nach der eigenen Geschichte teilhaben, zeigte Bilder von ihrer Reise in die Vergangenheit und versuchte das Gefühl ihrer Verbundenheit mit Russland zu erklären. Da ihre Suche an einem der Steppe gleichen Ort endete, von dem einst dort liegenden Dorf kaum mehr eine Spur, erfand sie ihre bewegende Familiengeschichte und brachte sie zu Papier.
Kaum ein anderes Land in Europa und der Welt ist gegenwärtig in seinem politischen Verhalten so umstritten wie unser großer Nachbar im Osten. In ihrem Vortrag ging die Professorin für TV und Journalistik Gabriele Krone-Schmalz den komplexen Wechselwirkungen von politischen Handlungsmustern, veränderten Einstellungen und Werten sowie eingelösten wie enttäuschten Hoffnungen in Ost und West nach und hinterfragte, wie in den letzten 25 Jahren auf beiden Seiten aus Missverständnissen Unverständnis und Entfremdung entstehen konnte, die nicht nur im Westen, sondern auch in Russland selbst empfunden wird. „Verstehen heißt doch nicht automatisch für gut befinden“, schreibt Krone-Schmalz im Vorwort ihres Buches. „Wer etwas versteht, begreift Zusammenhänge, kennt Hintergründe und hat auf dieser Basis die Chance, zu erklären, was vorgeht.“ Mit Russland als Land voller Widersprüche würden sich die westlichen Beobachter schwer tun, echte Demokratie könne nicht über Nacht entstehen – diese Aussage sei nicht falsch, nur weil sie von Putin stammt. Mit Ausführungen wie „Putin war zu Beginn seiner Amtszeit dem Westen gegenüber offen, jedoch wurde er nicht ernst genommen“ stieß sie bei vielen der Russland zugewandten Zuschauer auf Zuspruch. Die anschließenden Podiumsdiskussion mit Karl-Georg Wellmann, Mitglied des Deutschen Bundestages (CDU/CSU), der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe sowie der Deutsch-Weißrussischen Parlamentariergruppe sorgte für einen angeregten, interessanten und informativen Abschluss der Russlandtage.